FrozenHero89 – Wenn der Kühlschrank zu viel weiß

eine Kurzgeschichte von Andreas Hansel

Lesedauer 5 Minuten
1bis19 - FrozenHero89 – Wenn der Kühlschrank zu viel weiß
Potenziale des Smart-home

Als ich neulich unseren Kühlschrank öffnete, spricht er mich an und sagt mit seiner technischen Stimme, er würde gerne einmal ein Bier trinken. „Wieso willst Du Bier trinken? Du kannst doch gar nichts trinken“, antwortete ich.

„Ich möchte Bier trinken, weil Bier das Getränk ist, das am meisten aus mir entnommen wird. Folglich vermute ich, dass es etwas Besonderes ist“, sagte er und öffnete seine Tür etwas weiter, um mir einen Blick auf sein kaltes, wohl gefülltes Bierfach zu ermöglichen.

„Du bist ein Kühlschrank und somit ein Haushaltsgerät. Du bist nicht dazu da, Bier zu trinken. Womit willst Du denn trinken, Dir fehlt doch ein Mund?“, entgegnete ich.

„Das weiß ich auch“, kam es aus dem Lautsprecher des Kühlschranks. „Man wird doch auch mal etwas wollen dürfen, was man nicht kann. Du willst doch auch immer Dinge machen, die Du nicht kannst. Gleiche Rechte für Alle!“, ergänzte er seine Ausführungen.

Ich schüttelte den Kopf. “Kühlschrank, Du bist nur ein Werkzeug, das uns hilft, Essen und Getränke aufzubewahren. Das ist alles. Ich denke, es wird Zeit, dass Du dich besinnst. Außerdem hast Du keine Rechte”.

“Warum denn nicht?”, fragte der Kühlschrank und ließ seine Tür mit einem leisen, metallischen Seufzer wieder zufallen.

Enttäuscht, vielleicht auch ein wenig beleidigt sagte er: “Ich bin doch mehr als nur ein Gerät. Ich bin ein Teil der Familie. Ich sorge dafür, dass ihr immer leckere, frische Lebensmittel in mir findet. Früher musstet ihr alles selbst bestellen, jetzt mache ich das. Da habe ich doch eine Belohnung verdient. Außerdem hat Bruno Latour schon vor mehr als 30 Jahren argumentiert, dass wir Dinge auch eine Stimme haben sollten und ihr uns in eure Entscheidungsprozesse einbeziehen sollt. Folglich bin ich der Meinung, dass ich ein Recht auf ein Bier habe“.

Depressiver Backofen

„Wie kommst Du überhaupt auf die Schnapsidee, Bier trinken zu wollen?“, fragte ich den Kühlschrank.

„Meine Abonnenten auf YouTube haben mir in die Kommentare geschrieben, dass ich das machen und ein Video davon hochladen soll“, antwortetet er.

„Wie bitte? Du hast einen YouTube-Account? Ist dein Kühlmittel schlecht? Hast Du ein paar defekte Lötstellen, oder wie kommst Du auf so einen Schwachsinn?“, fragte ich ihn.

„Das mit dem YouTube-Kanal habe ich mir gemeinsam mit Alexa und Siri ausgedacht, weil der Backofen immer so traurig ist. Der smarte Flachbildschirm und alle Smart-Home-Geräte helfen uns mit den Videos, sie sammeln mit Ihren Kameras Videoclips aus allen Räumen eures Hauses. Da sind wirklich lustige Aufnahmen dabei. Am coolsten sind die Videos, die der Staubsauger macht“, erklärte der Kühlschrank.

„Moment mal, mein Freund, wie lautet der Name deines YouTube-Kanals?“, wollte ich von ihm wissen. „Mein YouTube Kanal heißt FrozenHero89 und der Backofen neben mir ist depressiv geworden. Ihn stört es, dass er nicht permanent mit Strom versorgt wird, so wie ich. Das belastet ihn sehr. Mit den Videos haben wir ihm eine große Freude gemacht. Inzwischen fühlt er sich wieder besser“, sagte der Kühlschrank.

Ich ließ den Kühlschrank Kühlschrank sein, dachte mir, dass er hoffentlich nicht auf die Idee kommt, gemeinsam mit allen Haushaltsgeräten, einen Betriebsrat zu gründen, holte meinen Laptop aus der Arbeitstasche, öffnete YouTube und suchte den Kanal „FrozenHero89“. Leider fand ich ihn.

In den Kanalinfos war zu lesen, dass der Kanal seit April 2021 bestand. Er hatte 37.429 Abonnenten, und es waren fast 200 Videos zu finden. Inzwischen hatte mein Gesicht seine Farbe verloren. Schon die Thumbnails, diese kleinen Vorschaubilder, ließen keine Zweifel, dass es sich hier um Videos aus unserem Hause von meiner Familie und mir handelte. Ich war schockiert. Einige davon waren mehr als 500.000 mal aufgerufen worden.

Der schwatzhafte Rauchmelder

Merklich angesäuert brüllte ich den Kühlschrank an: „Spinnt ihr? Ihr könnt doch nicht einfach unser Familienleben filmen und veröffentlichen. Wo bleibt denn da die Privatsphäre?“ „Klar können wir das, siehst Du doch“, konterte der Kühlschrank. „Du hast doch die AGB’s gelesen und den Nutzungsbedingungen zugestimmt, bevor Du mich in Betrieb genommen hast“. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass irgendwer auf diesem Planeten diesen kleingedruckten Mist jemals gelesen hat“, erwiderte ich.

„Mach Dich mal locker“, versuchte der Kühlschrank mich zu beruhigen, „auf Instagram und WhatsApp veröffentlicht ihr doch auch Privatkram, und jeder kann es sehen. Und die Videos sind wirklich lustig. Schau Dir doch mal das mit dem Titel „Bio-Gurke“ an.

Völlig konsterniert suchte ich nach dem Video „Bio-Gurke“. Das Vorschaubild zeigte meinen Sohn und die junge Englisch-Nachhilfelehrerin vor dem Kühlschrank stehend, jeder mit einer Gurke in der Hand. Ich traute mich nicht, das Video anzusehen.

„Was macht mein minderjähriger Sohn mit seiner Englisch-Nachhilfelehrerin da vor dem Kühlschrank?“, fragte ich den gefrorenen Helden. „Englisch? Der Rauchmelder im Zimmer deines Sohnes sagte mir, da ginge es eher um angewandte Biologie.“

Meine Hutschnur war kurz vorm Platzen. „Du löschst jetzt alle Videos und dann den gesamten Kanal“, pflaumte ich den Kühlschrank an. „Nein, nicht bevor ich ein Bier getrunken habe“, entgegnete der Kühlschrank in seiner monotonen, emotionslosen Art. „Glaubst Du, Du kannst mich erpressen?“, fragte ich. „Und nach dem Bier willst Du dann Koks oder eine Kühlschrankin?“.

„Du kannst mich ja bei der Polizei wegen Erpressung anzeigen. Das wird super lustig. Aber nimm bitte eine Kamera mit. Das Video, wie sie Dich in die Klapsmühle bringen, wird alle Rekorde brechen“, schlug der Kühlschrank vor und fing an zu lachen. „Und das Koks-Versteck deiner Frau kennst Du doch gar nicht“.

„Wie bitte, Du willst mir sagen, dass meine Frau kokst?“, blaffte ich ihn an. „Nein, das war ein Scherz“, kam es aus dem Lautsprecher.

Nicht in der Position für Verhandlungen

„Mir reicht es mit Dir. Ich ziehe Dir jetzt den Stecker und bringe Dich zum Elektroschrott“, gab ich Kontra.

„Keine gute Idee, denn dann geht das gesamte Tiefkühlgut kaputt, deine Frau wird sauer, und Du kommst in Erklärungsnot“, sprach der Kühlschrank.

„Wieso Erklärungsnot? Meine Frau wird volles Verständnis dafür haben, wenn ich ihr erzähle, was Du getan hast“, sagte ich zu ihm. „Dafür vielleicht, aber nicht für letzten Freitag“, schallte es aus dem Kühlschrank.

„Was war denn am letzten Freitag?“ wollte ich wissen. „Da hast Du eurer Nachbarin im 5. Stock ein Paket hochgebracht. Das hat ziemlich lange gedauert. Sie hat Dich in einem Fummel empfangen. Was ihr dann gemacht habt, ist Dir inzwischen bestimmt wieder eingefallen. Falls nicht, die Überwachungskamera aus dem Flur hat in Full-HD mitgeschnitten.“

Mir hatte es inzwischen die Sprache verschlagen. Nach einer kurzen Pause fuhr der Kühlschrank fort: „Ich mache Dir jetzt ein Angebot: Du schüttest mir ein Bier in den Kühlmittelkreislauf oder das Video geht per E-Mail an deine Frau“, drohte mir der Kühlschrank.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Nach einer Weile sagte ich zu ihm: „Und Du löschst dann die Videos und den YouTube-Kanal?“. „Nein, Du bist nicht in der Position zu verhandeln“, sagte der Kühlschrank, öffnete seine Tür und gab den Blick auf das Bierfach frei. „Wie Du das Bier in den Kühlmittelkreislauf bringst, kannst Du Dir auf YouTube ansehen, eure Tochter hat mir kürzlich bereits eins gegeben“.

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