Eine dystopische Kurzgeschichte von Andreas Hansel
Lesedauer 7 Minuten„Etwa eine halbe Stunde“, antwortete er auf die Frage, wie lange die Fahrt dauern würde. Sie waren gerade in Bad Homburg auf die Autobahn gefahren und unterwegs nach Flörsheim. Nach etwa zehn Minuten brach sie das Schweigen: „Ich weiß nicht, ob ich das wirklich will?“. „Wieso denn nicht?“, entgegnete er, „Jürgen und Daniela sind doch hellauf begeistert“. „Irgendwie ist das doch völlig schräg und macht mir Angst“, antwortete Julia. „Wir schauen uns das einfach unverbindlich vor Ort an, reden mit den Leuten und dann entscheiden wir in Ruhe“, beruhigte Volker seine Frau.
Vor drei Jahren hatten Sie geheiratet. Er war als Anwalt in einer dieser internationalen Kanzleien in Frankfurt angestellt und hatte es nach fünf harten Jahren mit vielen langen Arbeitstagen und etlichen Nachtschichten inzwischen zum Juniorpartner geschafft. Sie war Art-Director bei einer renommierten Marketingagentur. Aufgrund der Verlagerung der Berufstätigkeit ins Home-Office hatten Sie sich in der Nähe von Bad Homburg ein großes Haus gebaut und ihren Wohnsitz aus Frankfurt dorthin verlagert.
Julia war inzwischen 35 Jahre alt. Um sich den Kinderwunsch zu erfüllen, den beide hegten, war es allerhöchste Zeit. Aber die finanziellen Verpflichtungen aus dem Hausbau und dem gehobenen Lebensstil waren zu groß, um auf eines der beiden üppigen Gehälter verzichten zu können. Sie brauchten Unterstützung. Beide mussten auch mit Kindern weiter ihrem Beruf nachgehen.
Das Gebäude am Ortsrand von Flörsheim war unübersehbar. Es war einer dieser überdimensionalen schwarzen Kästen, die vor der Rezession als Logistikzentrum genutzt wurden. In großen Lettern stand „PVZ Hessen I“ an der linken oberen Ecke der Fassade. Es war von einem ca. drei Meter hohen Stahlgitterzaun umgeben. Sie parkten ihr Auto auf einem der freien Plätze vor dem Gebäude. Von dort gingen sie durch den Haupteingang an die Rezeption. „Wir haben einen Termin mit Frau Waldschmidt“, sprach Volker den Herrn an der Rezeption an. „Nehmen Sie bitte im Wartebereich Platz, ich gebe Frau Waldschmidt Bescheid, dass Sie da sind“.
Das Clean City Program
Es dauerte keine fünf Minuten, bis Frau Waldschmidt die Beiden begrüßte und in ihr Büro an einen kleinen runden Besprechungstisch führte, auf dem Wasser, Kaffee und Tee bereitstanden und einige Broschüren des „PVZ Hessen I“ auslagen. „Schön, dass Sie da sind“, eröffnete Frau Waldschmidt das Gespräch. „Wie weit sind Sie denn in Ihrem Entscheidungsprozess vorangekommen? Welche Fragen darf ich Ihnen beantworten, um Sie bei Ihrer Entscheidung zu unterstützen?“, fragte Sie Julia und Volker.
„Seit wann gibt es denn dieses PVZ und welche Erfahrungen haben sie bisher gemacht?“, entgegnete Volker. „Unser PVZ ist das erste Personenvermittlungszentrum in Hessen, weitere gibt es derzeit noch in Essen und in Berlin. Dieses wurde vor etwa acht Monaten eröffnet. Aktuell leben hier 1.628 Personen. Kapazitäten haben wir für 2.800 Personen, vermittelt haben wir bisher 157. Alle Vermittlungen liefen bisher ohne jegliche Beanstandungen“, erwiderte Frau Waldschmidt.
„Was sind das für Personen, die sie vermitteln und wie läuft eine Vermittlung ab?“, fragte Julia. Frau Waldschmidt antwortete: „Zuerst informiere ich Sie kurz über die Hintergründe und Entstehung der PVZ in Deutschland und beantworte danach Ihre Fragen.“ Julia nickte zustimmend.
„Es waren zahlreiche Faktoren, die zum Beschluss der Gründung von PVZ in Deutschland geführt haben. Die Hauptursache war die Rezession, die während der Eskalation des Ukraine-Konflikts einsetzte. Sie hat dazu geführt, dass zahlreiche Menschen ihren finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten, weil sie entweder ihren Arbeitsplatz verloren hatten oder weil das Leben schlichtweg zu teuer für sie wurde. Diese landeten dann perspektivlos auf der Straße, viele begingen Selbstmord. Es entstanden Zeltstädte in den Parks, und die Innenstädte wurden von Bettlern und Obdachlosen förmlich überschwemmt, weswegen der Städtetag das „Clean City Program“ beschlossen hat.“ Julia und Volker nickten, sie hatte in den Nachrichten des Öfteren vom „Clean City Program“ gehört.
Listenmenschen
„Menschen, die keinen Beitrag zur Gesellschaft leisten und lediglich das Stadtbild verschandeln, werden zu uns verbracht. Wir sorgen für eine energieeffiziente und ressourcenschonende Verwahrung. Sie finden bei uns die verschiedensten Biografien. Aber das haben sie bestimmt erkannt, als sie sich die Profile im Internet angesehen haben“, führte Frau Waldschmidt weiter aus.
„Sind auch Kriminelle und Drogensüchtige darunter?“, fragte Volker. „Kleinkriminelle, Drogen-, Alkohol- und Medikamentensüchtige haben wir hier, aber diese Listenmenschen dürfen wir nicht vermitteln. Die Personen, die wir vermitteln sind alle gesund, geimpft, entlaust und gechippt. Auch haben sie alle ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, sodass eine grundlegende Verständigung möglich ist“, erhielt er als Antwort.
„Was müssen wir denn beachten, wenn wir uns auf eine Vermittlung einlassen und jemanden zu uns ins Haus nehmen?“, wollte Julia wissen.
„Eine sehr gute Frage“, entgegnete Waldschmidt: „Sie verpflichten sich, der Person Kost und Logis sowie die nötigen Utensilien für Körperpflege und Kleidung zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus müssen Sie ihr ein monatliches Taschengeld von 147 Euro auf ihr Konto überweisen. Das Zimmer muss Privatsphäre gewährleisten und mindestens sechs Quadratmeter groß sein. Die Person darf bis zu 48 Stunden pro Woche für Ihre Familie tätig sein. Achten sie bitte darauf, das körperliche Arbeiten die physischen und konditionellen Möglichkeiten der Person nicht übersteigen. Sie dürfen keine sexuellen Handlungen an oder mit der Person verüben, dürfen sie nicht schlagen und keine sonstige körperliche Gewalt anwenden. Schimpfen und Anschreien sind erlaubt, ihre Wortwahl sollte sich dabei allerdings eines gesellschaftsfähigen Vokabulars bedienen. Auch müssen Sie darauf achten, dass die Person spätestens um 20:00 wieder im Hause zurück ist, sofern sie Ausgang hat. Aber das alles steht detailliert in unserem Informationsblatt, das sie erhalten, wenn sie sich auf eine Vermittlung einlassen. Haben Sie sich denn anhand der Profile schon jemanden ausgesucht?“
Endstation Obdachlosigkeit
„Wir fanden das Profil von Larissa Kern sehr interessant und dachten, sie könnte für uns geeignet sein“, sagte Julia. „An Larissa dachte ich auch, als ich Ihre E-Mail mit den Anforderungen und Aufgaben gelesen habe. Sie wird von mir betreut. Ich schlage vor, dass ich Sie Ihnen persönlich vorstelle.“ Frau Waldschmidt wartete nicht auf eine Antwort. Sie griff zum Telefonhörer, tippte vier Ziffern ein, sprach: „Kommen Sie doch bitte unverzüglich in mein Büro“, legte wieder auf und sagte: „Gleich wird sie da sein. Eine sehr gute Wahl.“
Eine schlanke Frau in dunklen Jeans und einem abgetragenen wollweißen Pullover betrat das Büro und stellte sich als Larissa Kern vor. Sie hatte dunkle, mittellange Haare und ihr Gesicht war vom Leben auf der Straße gezeichnet. Sie wurde begrüßt und gebeten, sich mit an den Tisch zu setzen. Volker schätzte sie auf Ende dreißig Anfang vierzig. Sie sah völlig normal aus, so wie viele andere Frauen in diesem Alter. Julia verwunderte dies. Sie konnte sich nicht vorstellen, wieso jemand wie Larissa Kern in ein PVZ gelangte. „Wieso sind Sie denn hier gelandet?“ fragte sie.
„Nach meiner Scheidung musste ich mir eine eigene Wohnung suchen. Die Mieten und Nebenkosten stiegen so stark an, dass ich entscheiden musste, ob ich mein Gehalt, das ich als Grundschullehrerin verdiente, zur Zahlung von Miete, Nebenkosten, Versicherungen oder für Lebensmittel und Dinge, die man sonst so zum Leben braucht, ausgebe. So kam ich mit meinen Mietzahlungen in Verzug und wurde aus der Wohnung geklagt. Ich war zwei Jahre obdachlos und habe in einer Bauwagensiedlung am Stadtrand gelebt. Anfangs funktionierte das alles noch. Bis ich auf die Idee kam, gerichtlich dagegen vorzugehen, dass die Schulen in Hessen ihren Lehrern in den Sommerferien immer kündigen, um die Personalkosten einzusparen. Den Prozess habe ich verloren, mir wurde gekündigt, und meine letzten Reserven reichten nicht für die Anwalts- und Gerichtskosten. Folglich musste ich in die Stadt gehen, um zu betteln“, begann Frau Kern ihre Geschichte zu erzählen.
Ein Bewerbungsgespräch wie andere
Sie holte kurz Luft und sagte: „Im Zuge des Clean-City Program haben sie uns alle einkassiert, gegen unseren Willen. Mit speziellen Einsatzkommandos haben sie die Städte nach uns abgesucht. Die Bevölkerung hat mitgeholfen. Jeder, der einen von uns gemeldet hat, bekam einen Einkaufsgutschein im Wert von 25 Euro.“
Julia und Volker waren überrascht, wie gut Frau Kern sich artikulierte, hatten Sie doch eine völlig andere Vorstellung von Menschen, die auf der Straße gelebt haben. Während Volker dachte, dass dies genau die richtige Person für die Betreuung von Kindern und Haushalt sei, fragte sich Julia, wie schrecklich das von Frau Kern Erlebte doch sein muss und was es mit ihr gemacht haben wird.
Sie unterhielten sich eine gute Stunde. Volker und Julia berichteten von Ihren Plänen mit den Kindern und erläuterten, welche Arbeiten es bei ihnen zu tun gäbe. Larissa Kern hörte zu und beantwortete die Fragen, die ihr gestellt wurden. Für Volker war es eine Art Bewerbungsgespräch, so wie er sie in seiner Kanzlei schon hundertfach geführt hatte. Dementsprechend stellt er Larissa Fragen über ihr bisheriges Leben und ihre beruflichen Stationen. Julia interessierte sich mehr für die emotionale Ebene. Ihre Fragen fokussierten mehr auf die Erlebnisse von Larissa als Obdachlose und ihren Umgang damit.
Ihre letzte Frage war: „Wieso suchen sie sich denn nicht eine neue Stelle als Lehrerin, Lehrer werden doch gesucht?“ „Das habe ich lange versucht, aber niemand hat mir eine Stelle angeboten, nicht mal zu einem Gespräch wurde ich eingeladen“, antwortete Larissa und ergänzte: „Ein Direktor sagte mir am Telefon im Vertrauen, dass ich mich mit meiner Klage gegen das System gestellt und von daher keine Aussicht mehr auf eine Beschäftigung an einer Schule habe. Selbst Privatschulen haben mir immer abgesagt.“
Günstige Lösung
Frau Waldschmidt beendete nach einer Dreiviertelstunde das Gespräch und schickte Frau Kern zurück in ihr Zimmer. Julia und Volker schlug sie sodann vor, Frau Kern für eine Woche für sie zu reservieren. Bis zum nächsten Donnerstag müssten sie sich entscheiden. Würden sie sich für Frau Kern entscheiden, käme nochmal jemand zu ihnen vor Ort, um die Gegebenheiten zu inspizieren, danach könnten sie Larissa Kern abholen, sofern alles in Ordnung sei.
Auf der Heimfahrt sprachen Julia und Volker über das soeben Erlebte. „Ist das nicht eine milde Form der Sklaverei?“, fragte Julia. „Quatsch“, sprudelte es aus Volker heraus. „Wir holen Larissa aus diesem sterilen Lager und geben ihr eine sinnvolle Beschäftigung. Sie wird sich bestimmt freuen, bei uns zu sein. Wir sind doch keine Unmenschen. Bei uns wird sie es gut haben. Und letztendlich geben wir damit unserer Gesellschaft auch etwas zurück.“ „Aber wenn sie sich ihr Leben ganz anders vorgestellt hat?“, tönte es vom Beifahrersitz. „Ich denke, so viel Auswahl wird sie nicht haben. Wenn wir sie nicht nehmen, tut es ein anderer. Denk doch mal praktisch. “Wenn das mit unseren Kindern klappt, haben wir die perfekte Betreuung und das noch zu einem Spottpreis“, sagte Volker.
Julia äußerte weitere Bedenken: „Und was machen wir, wenn unsere Kinder dann erwachsen und aus dem Haus sind und wir sie nicht mehr brauchen? Geben wir sie dann zurück?“ „Keine Ahnung, vielleicht benötigen unsere Eltern dann Unterstützung in ihrem Haushalt. Wer weiß denn schon, was in 20 Jahren sein wird? Ich denke, wir sollten es tun.“