Der Clan-Code in uns

Ein Gastbeitrag von Jörg Uhlig

Lesedauer 5 Minuten
Willensfreiheit

Im ersten Teil meiner Ausführungen zur Evolution des Sozialverhaltens des Menschen versuchte ich zu erklären, warum die Mehrheit der Menschen derart obrigkeitshörig ist und den Märchen und Anweisungen einer wodurch auch immer oder auch nicht legitimierten Führung folgt. Andere Erklärungsmodelle der Obrigkeitshörigkeit, die nur den modernen, scheinbar zivilisierten Homo sapiens in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen und ihn als individuell defizitär und die daraus resultierende Obrigkeitshörigkeit als Ausdruck einer individuellen schwachen Persönlichkeit und Narzissmus erklären, sind nicht hinreichend tauglich als Modell für die immer wieder erfolgenden Massenhysterien und Massenpaniken, die zu allen Zeiten und in allen Kulturen auftreten können.

Seit der Corona-Krise wissen wir, dass dies gleichzeitig und global möglich ist. Es liegt demnach einerseits am von der Obrigkeit erzeugten Druck und der Vorspiegelung einer Bedrohung auf die Bevölkerung, andererseits aber auch an einer inneren und vor Urzeiten evolutiv bewährten Bereitschaft, sich in Zeiten der Gefahr zu einer konformen Masse zusammenzuschließen, um eine Bedrohung unter Anleitung der Obrigkeit gemeinsam zu bekämpfen und zu überwinden. Aus Individuen werden dadurch konformistische Clan-Krieger.

Wie kam es nun aber zu den so umfassenden Repressalien gegen „Abweichler“: also Corona-Maßnahmengegner, Ungeimpfte, Maskenverweigerer, eben all diejenigen, die dem Narrativ vom „Killervirus“ einerseits und der angeblich allein seligmachenden „Impfung“ andererseits nicht trauten und ihm widersprachen?

Warum wurden staatlich angeordnete Repressalien von zumindest einem Teil der Konformisten nicht nur achselzuckend zur Kenntnis genommen, sondern sogar eifrig befolgt und fanatisch im eigenen Lebensumfeld angewandt?

„Ich bin ja jetzt Rentner“

Denn es ist ja das eine, wenn ein Vertreter der sogenannten Elite wie jener Tobias Hans, ehemals Ministerpräsident des Saarlandes, gegen Ungeimpfte juristisch folgenlos (immerhin aber später durch seine krachende Abwahl quittiert) ungeniert aufstachelnd forderte: „Zuerst einmal müssen wir eine klare Botschaft an die Ungeimpften senden: Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben.“

Und es ist ebenso das eine, wenn eine offenbar machttrunkene SPD-Vorsitzende Saskia Esken alle jene Bürger, die gegen grundgesetzwidrige Corona-Maßnahmen protestierten, straffrei als „Covidioten“ titulieren kann.

Auch ist es das eine, wenn auch durchaus merk- und denkwürdig, wenn der redselige Alt-Bundespräsident Gauck, selbst gerne sich als einstiger Widerständler im siechenden Sozialismus gerierend, alle Impfverweigerer als „Bekloppte“ beleidigt.

Man kann diese Entgleisung mit den seinem fortgeschrittenen Alter geschuldeten schwindenden geistigen Kräften („Ich bin ja jetzt Rentner und muss nicht mehr auf jedes Wort achten“, erläuterte Joachim Gauck dazu) oder dem im Gegensatz zur DDR-Ohnmacht inzwischen erlebten Machtgefühl erklären, – angemessen ist sie sicher nicht.

In jedem Fall ist es aber etwas anderes, wenn nächstens „das gemeine Volk“ beginnt, sich offen auf der Straße gegenseitig Würde und Rechte abzusprechen. Wenn Impfverweigerern der langsame und elende Erstickungstod auf der Intensivstation gewünscht wird, weil man ihnen kein Beatmungsgerät gönnt. (Es sei, angesichts des heutigen Wissenstands, hier dahingestellt, ob mit der invasiven Beatmung von Covid-Patienten mehr Menschen gerettet oder eher mehr getötet wurden.)

Der Blockwart in uns

Und es ist weiterhin etwas ganz anderes, wenn ungeimpfte Mitarbeiter vom Chef und Arbeitskollegen geschnitten, bedrängt und gemobbt werden. Wenn ihnen etwa der Zugang zu betrieblichen Gemeinschaftsräumen verwehrt wird. Wenn ihnen die Ausübung ihres Pflegeberufs untersagt wird – und zwar in vorauseilendem Gehorsam.

Auch ist es etwas völlig anderes, wenn Mitarbeiter in Lebensmittelläden Kunden drangsalieren, weil diese ihre Maske nicht richtig trügen, um ihnen bei Nichtbeachtung sogleich Hausverbot anzudrohen. Oder es ist etwas anderes, wenn 2G-Regeln an Weihnachtsmärkten nicht nur angeordnet, sondern auch von Wurstsemmelverkäufern kontrolliert werden.

In der Tat etwas anderes ist es auch, wenn der Nachbar seine Mitbewohner im Haus – der Aufforderung des bayerischen Ministerpräsidenten Söder folgend – an die Behörden denunziert, weil er mutmaßt, dass dort Umtriebe stattfinden, die nicht den aktuellen Corona-Verordnungen entsprechen.

Die Grundlage dieses Verhaltens gegenüber den Abweichlern lässt sich jedenfalls ebenfalls sehr einfach durch die Evolution unseres Sozialverhaltens erklären.

Unsere Vorfahren fürchteten zahlreiche elementare Bedrohungen, die der Sippe, dem Rudel, den Garaus machen konnten. Zu Überleben gelang aber nur, wenn alle Clanmitglieder zusammenhielten und persönliche Interessen und Einschätzungen hintanstellten. Zumindest gab es ganz offensichtlich einen evolutiven Vorteil, wenn alle Mitglieder der damals noch anzahlmäßig sehr überschaubaren Familiengemeinschaft an einem Strang zogen. Individuen, die sich diesem Bestreben verweigerten, schädigten diese Gemeinschaft.

Roma locuta, causa finita

Dieser Mechanismus, diese Betriebsanweisung aus urtümlichen Zeiten, steckt immer noch in den Menschen. Einigen gelang es im Leben diese „Betriebsanweisung“ zu überschreiben und damit ihre denkende Autonomie zu bewahren. Aber bei der überwältigenden Überzahl brachen die uralten Instinktive hervor, und sie agierten aggressiv gegen die Dissidenten. Sie musste sich auch gar nicht mit deren Argumenten auseinandersetzen, denn sie waren – dank des Machtworts der Herrschaft – im Besitz höheren Wissens und Moral.

Unerheblich ist dann auch schließlich, ob eine tatsächlich lebensgefährliche Bedrohung vorliegt oder ob diese nur eingebildet oder – wie in der Coronakrise – von der Herrschaft wahrheitswidrig vermittelt wird. Denn wenn die Führung sagt, es ist gefährlich, dann ist es gefährlich! Roma locuta, causa finita!

Zugleich wird von der daran interessierten Herrschaft das Heilsversprechen ausgesandt:

Wenn alle gehorchen, werden alle überleben! Wenn einer oder einige nicht gehorchen, werden unter Umständen alle, aber mindestens viele sterben!

Konkret hieß dieses: Nur wenn alle sich impfen lassen, werde die rettende Herdenimmunität erreicht. Wenn alle Masken tragen, müssten die Ärzte keine Triage auf der Intensivstation vornehmen. Wer sich nicht impfen lasse, verhalte sich asozial und unsolidarisch! Er sei verantwortlich dafür, dass die – selbstverständlich ausschließlich wohlmeinende – Politik weiterhin Lockdowns und Schulschließungen anordnen müsse. Denn sonst würden wir alle, oder zumindest die „vulnerablen Gruppen“ elend sterben!

Sind wir Verdammte?

Selbstverständlich wurde das nicht immer so explizit verkündet, aber die willfährigen Qualitätsmedien und die zur Schau gestellten sorgenvoller Gesichter von Politdarstellern und sogenannten „Experten“ vermittelten dem Volk diese Lage.

So wird der Mensch quasi auf Knopfdruck wieder zum Tier umfunktioniert. Zuerst zum ängstlichen Rudeltier, das in einer gefahrvollen Welt da draußen die Wärme und den Zuspruch seiner Clanmitglieder sowie die Anweisungen der obersten Hierarchiestufe benötigt. Um dann, als Konsequenz der Direktiven unserer Herrschaft zum Wolf gegenüber all jenen Gruppenmitgliedern zu werden, die die Dinge anders bewerten und aus dem befohlenen Gruppenverhalten ausscheren.

In der Tat gibt es in der Geschichte zahllose Beispiele, in denen die Hetze und der Durchführung von unmenschlichen und menschenverachtenden Maßnahmen gegenüber „Abweichlern“ durch die politische Führung deutlich weiterging als in den Jahren des Coronismus. Man mag dabei an das Robbespierre´sche Terrorregime des sogenannten „Wohlfahrtsausschusses“ im nachrevolutionären Frankreich denken oder an die grausame Ketzerverfolgung der Kirche im Mittelalter.  

Ist es – betrachtet man das Geschehen der drei Corona-Jahre – also den Menschen unmöglich, aus der Geschichte Lehren zu ziehen?  Sind sie aufgrund ihrer inneren Anlage dazu verdammt die Fehler der Vergangenheit unter gegebenen ähnlichen Bedingungen immer wieder zu wiederholen?

Kann denn nur die traurige Einsicht der Corona-Hysterie-Jahre die sarkastische Feststellung bleiben: „Wenn ihr euch fragt, wie das damals passieren konnte: weil sie damals so waren, wie ihr heute seid.“

Sind unsere moderne Gesellschaft und Politik heute tatsächlich nicht willens noch in der Lage, sich einer schonungslosen Aufarbeitung der Geschehnisse zu stellen und für die Erziehung kommender Generationen anhaltende Konsequenzen zuziehen?

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