Das eliminierte G

von Gastautor Andreas Hansel

Lesedauer 5 Minuten
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Auf das G, das die Gravitation bezeichnet, ist seit jeher Verlass. Es ist naturgegeben und kann von uns Menschen überwunden, aber nicht manipuliert werden. Deswegen ist dieses G auch selten Thema im Alltag. Schwerkraft ist einfach da; sie funktioniert zuverlässig und bedarf, außer in bestimmten wissenschaftlichen Kreisen, keiner besonderen Erwähnung oder gar Diskussion.

So fristete der Buchstabe G lange Jahre ein Schattendasein. Eingeklemmt zwischen F und H dümpelte er bedeutungslos im Alphabet vor sich hin. Das änderte sich im Jahre 1950, als ein deutscher Arzt namens Ernst Gräfenberg bei Frauen ein Zentrum erhöhten Lustempfindens entdeckte, welches seither umgangssprachlich als G-Punkt bezeichnet wird. Der Buchstabe G hatte es geschafft, ins Licht der Öffentlichkeit vorzudringen. Neben dem I war das G der zweite Buchstabe, der es zu einem eigenen Punkt gebracht hatte.

Mitte der 70er-Jahre fanden sich die Vertreter führender Industrienationen in Gruppen zu sogenannten Gipfeltreffen zusammen. Zuerst waren es derer fünf, dann sechs, sieben und zeitweise acht Länder, die sich seitdem jährlich in überschaubarer Runde treffen, um politische Positionen auszutauschen. Diese Treffen werden in den Medien mit einem G und der entsprechenden nachgestellten Zahl bezeichnet. So hatte es G erneut geschafft, seinen geschützten Platz im Alphabet zu verlassen: Als G5, G8 oder gar G20 beherrscht es regelmäßig die Schlagzeilen.

Trotz AHA gab sich das G nicht geschlagen

Zu Beginn der 2000er-Jahre (etwa 2005 müsste es gewesen sein) drängelte sich die Ziffer 3 frech vor das G, um einen neuen Standard für die dritte Generation des Mobilfunks zu bezeichnen. 3G ermöglichte deutlich höhere Übertragungsraten als der zuvor verbreitete GSM-Standard. Während die 3 nach kurzer Zeit der 4 Platz machen musste und die 4 kürzlich von der 5 abgelöst wurde, schaffte es das G, seine Position in der Bezeichnung der Mobilfunkstandards zu halten, omnipräsent auf nahezu jedem Mobil- bzw. Schlautelefon.

2020 kam Corona, COVID19, Sars-CoV-2, oder wie auch immer. Zu Beginn der ausgerufenen, völlig neu definierten Pandemie hatte es den Anschein, als sollten andere Buchstaben das G aus den Schlagzeilen verdrängen. Wurden doch im Frühjahr 2020 die A-H-A-Regeln ausgerufen, die im Verlauf um die Buchstaben L und noch ein weiteres A erweitert wurden. Alles schien darauf hinauszulaufen, dass sich das A den ersten Rang zurückgeholt hatte, den es seit jeher im Alphabet hält. Denn es kam in diesen AHA-L-A-Regeln, hübsch reimend, gleich dreimal vor. Doch das G gab sich nicht geschlagen. Es erkämpfte sich in der Folge eine bis dahin unerreichte Präsenz in den Medien und im öffentlichen Raum.

Alles begann damit, dass die Regierungen ihren Bürgern Vorschriften machten – solche, die der eine oder andere schon als Kind von seinen Eltern zu hören bekam: „Wasch dir die Hände, wenn du ins Haus kommst“, „um 21.00 Uhr bist du spätestens zu Hause“, „geh nicht zu weit weg vom Haus“, „mach dich nicht schmutzig“, „zieh deine Mütze auf, sonst holst du dir eine Erkältung“, „wenn du nicht gehorchst, bekommst du Hausarrest“ …

Vielen fiel dabei gar nichts auf – vielleicht, weil unser Grundgesetz in der allgemeinen Wahrnehmung und Diskussion bis dahin ebenso wenig präsent war wie die Schwerkraft. Auch das Grundgesetz wurde als immer vorhandene und funktionierende Selbstverständlichkeit hingenommen. Dass es gemeinhin mit GG abgekürzt wird, nützte nichts: Dem GG wurde zu wenig Beachtung zuteil.

Das G war wieder in aller Munde – nun sogar doppelt

Nur wenige Bürger empfanden die Vorschriften als Eingriff in ihre Grundrechte. Sie wollen nicht von den Regierenden bevormundet werden und berufen sich auf das Grundgesetz. Grundrechte, so glaubte man bis dato, bedürften keines Grundes. Jeder hat sie. Keinem können sie genommen werden. Sie dürfen nicht an Bedingungen geknüpft sein. Diskussionen über Grundrechte und das Grundgesetz fanden statt, sogar Demonstrationen. Das G war wieder in aller Munde, dieses Mal sogar doppelt. Doch das sollte erst der Anfang sein.

Wurde das öffentliche Leben im Jahr 2020 per Verordnung zugesperrt, durfte man 2021 zum Essen und zum kulturellen Austausch wieder aus dem Haus gehen. Anfangs nur mit Maske, später dann getestet, geimpft oder genesen. Dafür hatte man sich diesen medienwirksamen Dreiklang überlegt und sogar das alte Partizip „genesen“ wieder aus den Wörterbüchern hervorgeholt. Aus dem Dreiklang leitete die Politik die GGG-Regeln her, die den Buchstaben G ultimativ ins Rampenlicht allen gesellschaftlichen Daseins katapultierten. Aus den G mit führender Ziffer wurden Regeln: 1G für „geimpft“, 2G für „geimpft oder genesen“, 3G für „geimpft, genesen oder getestet“. G war von nun an dreifach am Start, als GGG.

Aber Hoppla, Norbert Häring erinnert uns: „In diesen dynamischen Zeiten der Umdeutungen werden sich nur Wenige erinnern, dass 3G, damals geschrieben als GGG, bis etwa Oktober 2020 nicht für geimpft, genesen oder (auf Schritt und Tritt getestet) stand, sondern Teil der Formel war:

AHA + A + L + GGG = R – 1

Dabei stand und steht AHA für Abstand, Hygiene, Alltagsmasken, A für App zur Kontaktnachverfolgung, L für Lüften, R für den R-Wert und GGG für das Vermeiden von Gedränge, Gruppen und Gesprächen … Die Formel funktionierte nicht. Der R-Wert stieg über eins, wenn er wollte, und fiel wieder darunter, wenn es soweit war, insbesondere, wenn das Wetter besser wurde“. So kam es, dass „die freundliche Aufforderung GGG … zum strafbewehrten und sehr viel restriktiveren 3G“ wurde.

Von Anfang mit G wie Gesundheit ausgestattet

Die 3G-Regeln sind nur vordergründig Regeln. Eigentlich handelt es sich um die Einteilung von Menschen in drei Gruppen (mit G wie Gruppe), denen unterschiedliche Rechte zugestanden werden. Diese Einteilung kann durchaus als Segregation bezeichnet werden:

Die Mitgliedschaft in einer dieser Gruppen kann durch eine Impfung, einen positiven PCR Test mit anschließender Genesung oder durch einen Schnell- bzw. PCR-Test erworben werden. Um Mitglied einer der Gruppen zu werden, muss eine unangenehme, mehr oder weniger riskante Prozedur durchlaufen werden. Gegebenenfalls führt sie zu unerwünschten Nebenwirkungen unterschiedlicher Schweregrade, bis hin zum Tod.

Die Zugehörigkeit zu den 3 Gruppen ist per Definition befristet. Eine Mitgliedschaft in der Gruppe der Geimpften hält voraussichtlich sechs bis acht Monate, mit Tendenz nach unten. In der Gruppe der Genesenen ist die Mitgliedschaft auf sechs Monate befristet, und in der Gruppe der Getesteten darf man je nach Art des Tests 24 oder 48 Stunden Mitglied sein. Die Prozeduren, um die Mitgliedschaft aufrechterhalten zu können, müssen folglich regelmäßig wiederholt werden – G wird in der gesellschaftlichen Diskussion weiterhin präsent bleiben.

Was viele vergessen haben: Mit G beginnt auch Gesundheit. In den allermeisten Fällen werden Menschen gesund geboren. Sie sind in ihrem Leben von Anfang an mit G wie Gesundheit ausgestattet – kostenlos, und ohne dass sie dafür etwas bezahlen oder riskieren müssen. Ohne dass sie sich Produkte der pharmazeutischen Industrie einverleiben oder verabreichen müssen.

Gesundheit hat das Problem, dass sie nicht mit Ziffern gezählt, gemessen und gewogen werden kann. Folglich kann sie auch nicht vermarktet und gehandelt werden. Sie ist etwas höchst Persönliches und Individuelles. Man kann sie nicht kaufen, verkaufen, veräußern, verschenken oder jemandem wie eine Marke anheften oder ihm wie eine Aktie übertragen. Gesundheit passt nicht in unser System der fungiblen, börsenfähigen Güter.

Geächtet geknechtet gefangen

So ist auch der epidemische Verabschiedungsimperativ „Bleiben Sie gesund“ eine sinnbefreite Worthülse, ein Widerspruch in sich. Schon die Befehlsform erscheint als Affront, schwingt doch ein furchteinflößendes „Wehe dem, wenn Sie krank werden“ mit. Dem gesunden Individuum stiftet es zwar einen ureigenen Nutzen, gesund zu sein und dies auch zu bleiben. Der Zustand des Gesundseins führt jedoch nicht zu einer Mitgliedschaft in den GGG-Gruppen. Nein: Man soll seine Gesundheit riskieren, um noch zu einer der 3 Gruppen zu gehören und am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu dürfen.

Das G, das für Gesundheit steht, wurde eliminiert. Gesundheit existiert nicht mehr. Per Dekret ist jeder Mensch, der geboren wurde, ein unmündiger Patient und als potenzieller Seuchenherd eine Gefahr für die Menschheit. Er muss geimpft werden und durchgeimpft, damit man ihn wieder in die Gattung der sozialfähigen Menschen einreihen kann. Angesichts dieser Stigmatisierung und Kriminalisierung bleibt zu hoffen, dass der Buchstabe G seinen medialen Siegeszug zukünftig nicht für Begriffe wie „geächtet, geknechtet oder gefangen“ fortsetzt. G wie gespalten ist für eine Gesellschaft schon Gefahr genug.

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