ein Gastbeitrag von Michael Ley
Lesedauer 6 MinutenDer Junge muss an die frische Luft, so heißt es in einem Film, der das Schicksal des Entertainers Hape Kerkeling dokumentiert. Der Film unternimmt den Versuch, den Lebensweg eines Mannes, der sich gerne verkleidet und die Leute zum Lachen bringt, als Antwort auf den Selbstmord der depressiven Mutter darzustellen. Eine solche Erfahrung ist eigentlich überhaupt nicht zum Lachen, aber irgendwie, so heißt es in dem Film, muss das Leben ja weitergehen. Entweder man entscheidet sich, dem Leben doch noch einen Sinn abzugewinnen, oder man folgt der Mutter in den Tod.
Der Film hat in Deutschland erstaunlich viele Zuschauer gefunden, was sicher nicht nur an der Beliebtheit der Filmfigur liegt. Die Depression ist schon lange vor Corona zur Volkskrankheit geworden. Im Hintergrund muss dabei nicht unbedingt die individuelle Erfahrung von Tod und Trauer stehen. Es reicht auch schon, wenn eine Gesellschaft den Menschen die Möglichkeit nimmt, ihr eigenes Leben in ein sinnvolles Ganzes einzubetten. Trotz Reichtum, Besitz und Wohlstand kann sich dann ebenfalls das Gefühl ausbreiten, in dieser Welt nichts mehr erreichen zu können. Die Menschen spüren, dass sie mit ihrem Leben in eine Sackgasse geraten sind.
Das Corona-Regime ist auch deshalb auf so breiter Basis akzeptiert worden, weil es dieser depressiven Grundstimmung einen allgemeinen Ausdruck verleihen konnte. Bleiben Sie zu Hause, so hieß das Motto, das die Bundesregierung angesichts einer angeblich bevorstehenden Katastrophe ausgegeben hatte. Das ist aber auch das Motto, dem sich die Depression verschreibt, wenn sie den Rückzug in vertraute und bekannte Welten der Lust am Ausprobieren und am Entdecken einer reichhaltigen Wirklichkeit vorzieht.
Nicht mehr wissen, was man den Kindern sagen soll
Nach zwei Jahren, in denen das ganze Land in einen staatlich verordneten Standby-Modus versetzt wurde, beginnen viele Menschen zu ahnen, dass es so nicht weitergehen kann. Die vielen Lockdowns, die kleinlichen Kontroll-Zwänge, das Stubenhockertum im Home-Office – das alles fühlt sich nicht wirklich nach einer lebenswerten Perspektive an. Das Leben hat gleichsam seine Farbe, seine Würze und seinen Geschmack verloren. Und das liegt nicht, wie uns die staatlich bezahlten Mediziner weismachen wollen, an den Wirkungen von „Long-Covid“. Es liegt daran, dass der Austausch mit anderen Menschen fehlt, dass die gemeinsame Arbeit liegenbleibt, dass wir nicht mehr wissen, was wir unseren Kindern sagen sollen, wenn sie uns danach fragen, welche Zukunft sie in dieser Welt erwarten können.
Viele haben inzwischen angefangen, die staatlichen Maßnahmen nur noch halbherzig zu befolgen. Auf den Straßen und in den Geschäften sieht man immer mehr Menschen, die die Maske nur noch nachlässig tragen oder einfach „vergessen“ haben. Die Leute erkennen, dass Inzidenzen im vierstelligen Bereich nicht die Folgen haben, die von den Politikern als Schreckgemälde an die Wand gemalt wurden. Auf der anderen Seite verliert auch die Impfung nach der dritten oder vierten Wiederholung innerhalb weniger Monate den Wert, den man sich ursprünglich davon erhofft hatte. Gäbe es eine Ratingagentur für die Akzeptanz von Impfungen, so würde sie den Kurs inzwischen auf Ramschniveau einstufen. Auch die Autorität der Regierung bröckelt. Viele Leute glauben immer weniger daran, dass man ihnen die Wahrheit über die Krise sagt. Manche sind eher bereit, den Überlegungen der sogenannten Verschwörungstheoretiker zu folgen als den offiziellen Verlautbarungen regierungsamtlicher Kreise. Dabei ist es nicht die Bevölkerung, die die Legitimität der staatlichen Organe in Frage stellt. Die Regierung hat sich selbst in ihr eigenes Narrativ verrannt und immer mehr Menschen sehen nicht ein, warum sie für die Fehler der Politik bezahlen sollen.
Hungrig auf Bewegung und Veränderung
Der Junge muss mal an die frische Luft, sagt der Großvater in dem Film und reist mit seinem Enkel für ein paar Tage in die Berge, während die Mutter es vorzieht, zu Hause zu bleiben und ihre Trauer zu kultivieren. Wenigstens für einen kurzen Moment kann der Junge deshalb erfahren, dass die Welt nicht nur in düsteren Farben gemalt ist, sondern dass es noch eine andere, eine lebens- und liebenswerte Wirklichkeit gibt. Man kann vermuten, dass der Großvater dem Enkel mit diesem Ausflug das Leben gerettet hat.
Muss man sich darüber wundern, dass die Menschen in Deutschland inzwischen an jedem Montag ebenfalls in Massen an die frische Luft wollen? Weg von der Couch und unter Leute kommen, eine Runde um den Block gehen und herausfinden, welche Überraschungen an der nächsten Ecke auf einen warten. In welche Richtung das alles zielt, können die meisten gar nicht sagen. Es geht ihnen vor allem darum, rauszukommen.
Rauskommen bedeutet so viel wie: neuen Lebensmut und neue Hoffnung schöpfen. Selbst Gefangene haben ein Recht auf regelmäßigen Hofgang. Das gewährt die Anstaltsleitung nicht aus purer Menschenfreundlichkeit, sondern weil sie weiß, dass sonst der gefürchtete Lagerkoller droht. Nach zwei Jahren Lockdown, nach endlosen Meetings im Home-Office und massenhaftem Konsum von Netflix-Serien, die nie richtig an ein Ende kommen, kann man annehmen, dass die Menschen in Deutschland kurz davor stehen, durchzudrehen. Sie wollen endlich wieder wissen, wie sich das Leben anfühlt. Sie sind hungrig auf Bewegung, auf Veränderung, auf Kontakt und Austausch und letztlich auch darauf, das Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Das Zerbrechen des Gesellschaftsvertrags
Aber es kommt noch etwas anderes hinzu. Der Protest der Menschen wird nämlich nicht nur durch die Unzufriedenheit mit den Corona-Maßnahmen motiviert. Eine wichtige Rolle spielt inzwischen auch die Sorge um die wirtschaftliche und politische Zukunft des Landes. Die Menschen haben in erster Linie nicht mehr Angst vor dem Virus, sondern vor dem eigenen gesellschaftlichen Abstieg.
Deshalb speist sich der Protest auch nicht aus gesellschaftlichen Randgruppen, sondern aus den Gruppen, die man üblicherweise als die Leistungsträger der Gesellschaft bezeichnet. Es sind die Pflegekräfte, die seit Jahren für einen Bruchteil dessen arbeiten müssen, was Klinik- oder Konzernchefs mit der Bewirtschaftung der Krankenhäuser verdienen, ohne sich dabei für die Nöte der Menschen an der Basis zu interessieren. Es sind die Handwerker und Gewerbetreibenden, deren Geschäftsmodelle unter dem Druck von Inflation und Materialknappheit auf der Kippe stehen. Es sind die Musiker und die Künstler, die seit zwei Jahren nicht mehr vor ausreichend großem Publikum auftreten können. Es sind die Familienväter und -mütter, die mit zwei oder drei parallelen Jobs über die Runden kommen müssen und deren Existenz gefährdet ist, wenn einer dieser Jobs gekündigt wird. Und es sind zunehmend auch junge Menschen, die sich um die Chance auf eine solide Ausbildung in Schule, Hochschule oder Beruf betrogen sehen.
Alle diese Menschen spüren inzwischen, dass die Verträge nicht mehr stimmen, die sie einmal mit Staat und Gesellschaft getroffen haben. Kein einziger ist darunter, der diesen Staat oder diese Gesellschaft abschaffen will. Die Menschen, die auf den Spaziergängen zusammenkommen, haben in den vergangenen Jahren vielmehr sehr viel für das Gemeinwesen getan. Sie haben gearbeitet, Steuern bezahlt, Kinder großgezogen und den demokratischen Parteien ihre Stimme gegeben. Jetzt merken sie aber, dass die andere Seite nicht mehr bereit ist, ihren Teil des Gesellschaftsvertrags zu erfüllen. Sie merken, dass der Staat den Menschen Vieles abverlangt, ohne dafür die Gegenleistungen zu erbringen, die er ihnen einmal versprochen hatte.
Die Angst der Politik zur Verantwortung gezogen zu werden
Die Unzufriedenheit der Menschen und die Angst um ihre wirtschaftliche Existenz verleiht den Spaziergängen den Charakter einer Revolte – wenn man darunter den Versuch verstehen will, sich von festgefahrenen Denk- und Handlungsmustern zu verabschieden und etwas Neues auszuprobieren. Nicht ohne Grund machen die Spaziergänger Anleihen bei dem historischen Vorbild der Montagsdemonstrationen in der DDR. Die Menschen haben erkannt, dass sie nicht abwarten können, bis ihnen Regierungen oder Gerichte ihre Bürgerrechte freiwillig zurückgeben. Sie ahnen, dass man auch in einer Demokratie für seine Freiheit kämpfen muss.
Weil es eine Revolte gegen den Stillstand und die Langeweile, gegen die Neigung zu Depression und Selbstmordgedanken ist, zeigen sich die Politiker, die dem Volk den Rückzug ins eigene Heim verordnet hatten, so überrascht. Sie wissen genau, dass man sie zur Verantwortung ziehen wird und dass es dann nicht nur um Maskenpflicht und Abstandsregeln gehen wird. Sie wissen, dass man das ganze Geschäftsmodell der Parteien- und Wirtschaftskaste auf den Prüfstand stellen wird. Man wird die Politiker fragen, wo der Reichtum geblieben ist, der unter dem Leitbild einer neoliberalen Wirtschaftsordnung erarbeitet wurde und der offenbar nur einer kleinen Gruppe von Auserwählten zugute gekommen ist.
Weil sie Angst haben, dass ihr Diebstahl auffliegen könnte, rufen die Politiker nun selbst: Haltet den Dieb! Und weil man die braven Deutschen am liebsten mit dem Gespenst des Faschismus erschrecken kann, werden aus den Protestierern auch schnell schon mal rechtsradikale Terroristen, die man mit den Mitteln der Polizei oder seit Kurzem sogar mit Waffengewalt bekämpfen muss. Die Regierenden gebärden sich als Biedermänner, aber in Wirklichkeit wollen sie davon ablenken, dass sie Brandstiftern Zugang zu den tragenden Einrichtungen in Staat und Gesellschaft gewährt haben.
Den Aufbruch wagen
Wissen die Mächtigen nicht, dass eine solche Politik auch für sie selbst gefährlich werden kann? Glauben sie wirklich, sie könnten eine Bewegung, die sich im ganzen Land längst zu einer Massenbewegung entwickelt hat, mit Gewalt unterdrücken? Das sollte sich doch inzwischen gerade in Berlin herumgesprochen haben, dass eine Regierung, die berechtigte Proteste kriminalisiert, am Ende selbst zu kriminellen Mitteln greifen muss, um der Bewegung Herr zu werden.
Etwas Besseres als den Tod findest du überall, so lautet das Motto der Bremer Stadtmusikanten. Der Spruch hätte sich vielleicht auch für den Film über das Schicksal des jungen Kerkeling geeignet. Auf jeden Fall passt er zu den Motiven der Spaziergänger, die seit zwei Monaten überall in Deutschland auf die Straße gehen. Die Spaziergänger sind keine Faschisten und auch keine Terroristen. Es sind Menschen, die einen Aufbruch wagen, auch wenn sie noch nicht wissen, wohin dieser Aufbruch führen soll. Es sind die Menschen, denen das Land in naher Zukunft einmal sehr dankbar sein wird.