COVID-19 holistisch betrachtet: Eine Zusammenfassung

Gastbeitrag von Tristan Nolting

Lesedauer 6 Minuten

Am 20. Mai 2020 veröffentlichte ich ein 57-seitiges Dokument (inkl. 257 Quellen) mit dem Titel „COVID-19 (SARS-CoV-2) holistisch betrachtet – Eine kommunikations- psychologische, gesellschaftsphilosophische und biomedizinische Analyse der Pandemie.“ Grund für die Veröffentlichung war meine Feststellung, dass es während der COVID-19-Krise in weiten Teilen zu einer Fehlkommunikation zwischen Wissenschaft, Politik, WHO und Gesellschaft kam. Im Folgenden möchte ich einen Einblick in die umfangreiche Analyse geben. Aber wie komme ich auf die These, dass es eine Fehlkommunikation gab und nach wie vor gibt? Dazu finden sich gleich mehrere Anhaltspunkte, die ich auch in meiner Analyse beschrieben habe.

Was ist die langfristige Strategie?

So lässt sich konstatieren, dass bis zum heutigen Zeitpunkt kein nationales Fachgremium aus verschiedenen Experten gegründet wurde, das an einer transparenten Ausarbeitung einer langfristigen Strategie beteiligt gewesen wäre. In diesem Fachgremium hätten sich beispielsweise Virologen, Epidemiologen, Gesundheitswissenschaftler, Philosophen, Ökonomen usf. befinden können. Der schon am 3. April 2020 einberufene Expertenrat in Nordrhein-Westfalen schien dabei für die Politiker im Bundestag nicht als Vorbild zu fungieren. Eine langfristige Strategie würde in erster Linie eine Risiko-Abwägung beinhalten, welche die nach wie vor anhaltenden non-pharmakologischen Interventionen (NPI) auf den Prüfstand stellt. Sprich, inwiefern ist die Wirksamkeit von NPI wie Lockdowns, Mund-Nasen-Masken, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren & Co. gegeben und welche negativen Auswirkungen stehen demgegenüber? Ein solches Dokument über die Auswertung aller vorhandenen Daten zur Gegenüberstellung gibt es schlichtweg nicht. Bis heute sind sich Wissenschaftler uneinig darüber, ob die meisten der angeordneten NPI überhaupt eine Wirkung entfalten. Auch über die Fallsterblichkeit von SARS-CoV-2 herrscht nach wie vor Uneinigkeit. Was jedoch inzwischen als sicher gilt, ist, dass an COVID-19 hauptsächlich Menschen versterben, die über 69 Jahre alt sind (Ø Alter 84) und meistens Komorbiditäten aufweisen. Nach wie vor nutzen Politiker strikte Maßnahmen wie Lockdowns, obwohl ein stärkerer Schutz vulnerabler Bevölkerungsgruppen sinnvoller erschiene. Die WHO selbst empfiehlt inzwischen Lockdowns nicht mehr, um SARS-CoV-2 einzudämmen. Ob dies das letzte Wort ist, ist jedoch fraglich, da beispielsweise auch in Bezug auf die Anordnung von Mund-Nasen-Masken ein reger Meinungswechsel vorherrschte. Ein Meinungswechsel findet sich während der COVID-19-Krise jedoch nicht nur bei der WHO vor, sondern auch bei nationalen Behörden wie dem Gesundheitsministerium[1], diversen Politikern wie Jens Spahn[2] und Wissenschaftlern wie Prof. Dr. Christian Drosten.[3]

Moderne Medizintheorie:

Wenn sich schon fachspezifische Wissenschaftler über das grundsätzliche Vorgehen während der Pandemie uneinig sind, dann sollte explizit danach gefragt werden, inwiefern Laien, d. h. der Großteil der Gesellschaft, den Durchblick behalten sollen. Im Grunde genommen sind die Differenzen während der Pandemie jedoch kein Wunder, denn vorab hätte die medizin-theoretische Basis für das weitere Vorgehen während der Pandemie festgelegt werden müssen. Heutzutage wird Medizin nach wie vor nach dem pathogenetischen bzw. biomedizinischen Modell praktiziert, obwohl neue Erkenntnisse, beispielsweise durch das biopsychosoziale Krankheitsmodell (BPSK) von George L. Engel (1977) und das Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky (1979) bereits das „alte“ medizin-theoretische Modell abgelöst haben. Das neue Verständnis von Medizin birgt die Chance, Krankheit und Gesundheit als Polaritäten anzuerkennen, die nicht rein zufällig aufgrund körperlicher Unstimmigkeiten und regelwidriger Kreisläufe entstehen. Der Mensch wird somit nicht mehr als Maschine verstanden, bei dem der Arzt vorrangig als Mechaniker bestimmte Teile reparieren und auswechseln muss, sondern als Lebewesen, das eine gewisse Eigenverantwortung gegenüber sich selbst und anderen besitzt und somit zu seinem Wohlbefinden beitragen kann. Damit wird Krankheit gleichzeitig nicht mehr als Abnormität definiert, sondern als Signalfunktion zur Anpassung an die sich ständig ändernde Umwelt. Evolutionsbiologisch ließe sich nur schwerlich beweisen, dass die primäre Funktion von Viren (wie SARS-CoV-2) die Pathogenese (z.B. von COVID-19) ist und Viren somit parasitär sind. Viren brauchen Wirte, demnach Organismen, in denen sie sich vermehren können, um zu überleben. Ein zu aggressives Auftreten von Viren würde zum Tod des Wirts und somit auch zum Ende von Mikroorganismen wie Viren führen. Eine Symbiose zwischen Mensch und Mikroorganismus ist letztlich auch für einen Virus immer ein funktionales Verhältnis.

Welche Kollateralschäden entstehen durch die COVID-19-Pandemie?

In der derzeitigen COVID-19-Pandemie wird der Gesellschaft von der Politik ein Bild vermittelt, als müsste ein Krieg gegen den Erreger SARS-CoV-2 zur Verhinderung der Erkrankung COVID-19 geführt werden. Dementsprechend fällt auch die Rhetorik aus: Es geht hauptsächlich um das „böse“ Virus, welches möglichst schnell eliminiert werden muss. Nur am Rande wird erwähnt, dass ein gutes Immunsystem präventiv vor COVID-19 schützt, obwohl es inzwischen genügend Belege für diese Aussage gibt. An manchen Stellen wird sogar ganz und gar bestritten, dass das Immunsystem vor COVID-19 schützt.[4] Dies liegt wohl auch einfach am veralteten medizinischen Weltbild. Die wenigsten Wissenschaftler integrieren die biopsychosoziale Medizin in ihre Forschung, welche lehrt, dass der Mensch eine sogenannte autoregulative Selbstkompetenz besitzt. Diese Selbstkompetenz kann gestört werden, bspw. durch Stress, Angst, Überlastung & Co., die Möglichkeiten zur Erholung und Heilung sind jedoch durch das zentrale Nervensystem (ZNS) jedem Menschen in die Wiege gelegt. Insofern sollte überdacht werden, ob nicht etwa auch die laut Statistischem Bundesamt seit Jahrzehnten weiter ansteigenden Krankheitsfälle (insbesondere Zivilisationskrankheiten) zu dieser Pandemie beitragen und, ob ein neues Verständnis von Gesundheit und neue ganzheitliche (holistische) Ansätze aus diesem Dilemma führen können. Die Politik und die Medien könnten durch ihre Kommunikation sogar selbst zu einem psychosozialen Risikofaktor werden. In einem Dokument des Bundesinnenministeriums über die Risikokommunikation von COVID-19 ist unter anderem davon die Rede, die angeordneten Maßnahmen mittels Urängsten durchzusetzen.[5] Was bisher für eine Verschwörungstheorie von Prof. Dr. Rainer Mausfeld gehalten wurde, hat sich inzwischen bewahrheitet. Und auch, dass Wissenschaftler vom Bundesinnenministerium „bestellt“ wurden, um die NPI zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus zu rechtfertigen, ist inzwischen kein Geheimnis mehr.[6] Es wird immer deutlicher, dass die anfängliche politische Agenda „Gesundheitsschutz“ weitgehend verfehlt wurde. Dies lässt sich unter anderem durch die Kollateralschäden konstatieren, welche jedoch durch eine unzureichende Risiko-Analyse ignoriert werden. Zu den Kollateralschäden zählen nationale wirtschaftliche Schäden und damit einhergehende Existenzängste, steigende Arbeitslosenzahlen, vermehrte internationale Ernährungsarmut (laut WFP bis zu 130 Millionen mehr Menschen), verschobene lebenswichtige Operationen, um Betten für COVID-19-Patienten freizuhalten, psychovegetative Beschwerden durch die Mund-Nasenschutz-Verordnung, steigende psychologische Erkrankungen, Bildungslücken.

Die adversen Folgen durch das Handeln der Politik während der COVID-19-Pandemie ließe sich durchaus noch weiterführen. Doch interessanter ist vielmehr, wie eine gelungene Risikokommunikation aussehen würde. Ein Anhaltspunkt wäre sicherlich, das Immunsystem und andere Körpersysteme wieder in den Vordergrund der Kommunikation zu rücken und so den deutschen Bürgern die Eigenverantwortung über ihren Körper wiederzugeben. Ein weiterer Anhaltspunkt wäre, über die umfassende Wechselwirkung zwischen Körper und Geist aufzuklären, sodass jeder Mensch noch über die Stresstheorie hinaus versteht, dass das psychologische Wohlbefinden sich auf den Körper und dessen Leistungsfähigkeit auswirken kann, vice versa. Dies könnte langfristig zur Verringerung von Zivilisationserkrankungen beitragen und gleichzeitig das Risiko für die Pathogenese von Infektionen mit Viren wie SARS-CoV-2 verringern. Auch in zukünftigen Pandemien ist die Gesundheit von Bürgern entscheidend, da NPI immer nur die Welle der Infektionen verzögern, nicht aber zum direkten Schutz vor Virenerkrankungen beitragen können.

Ein optimiertes Krisenmanagement:

Um zukünftig Fehlentscheidungen zu vermeiden, ist nicht nur ein transparent arbeitendes Fachgremium erforderlich, sondern auch eine optimierte Risikokommunikation. Insbesondere den Medien kommt dabei als Informationsquelle eine entscheidende Bedeutung zu. Letztlich liefern Medien immer nur Informationen über einen geringen Ausschnitt der Wirklichkeit. Wird dieser Ausschnitt als Wahrheit propagiert, kann es zu Auseinandersetzungen im zwischenmenschlichen Bereich über verschiedene Glaubenssätze kommen. Es geht dabei explizit nicht darum, wer Recht hat, sondern wie gemeinsam darüber kommuniziert werden kann, welche Lösungen zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen wie der COVID-19-Pandemie zur Verfügung stehen. Insbesondere während Gesundheitskrisen ist ein gesellschaftlicher Zusammenhalt notwendig, um weiteren psychischen und physischen Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Diskussionen über freiheitliche Einschränkungen ohne negatives Testergebnis und Immunitätsausweise bzw. Impfpflichten sind in diesem Kontext eher als ethisch fragwürdig bzw. gesellschaftlich gefährlich einzustufen, da jene Vorhaben durchaus zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft beitragen können. Exemplarisch habe ich das potentielle Krisenmanagement in folgender Grafik dargestellt:

Krisenmanagement Covid-19 Grafik

https://tristanstrivium.com/

Die vollständige Analyse und ein englisches Update vom 1. November finden Sie auf Researchgate.

Nolting, T. (2020). COVID-19 (SARS-CoV-2) in Germany: A holistic approach. ResearchGate.

https://www.researchgate.net/publication/345136477_COVID-19_SARS-CoV-2_in_Germany_A_holistic_approach

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Gastbeiträge geben die Meinung des Autors/der Autorin wieder.
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Weiterführende Literatur:

Naumova, E. N. (2020). The traps of calling the public health response to COVID-19 “an unexpected war against an invisible enemy”. Journal of Public Health Policy, 41(3), 233–237. https://doi.org/10.1057/s41271-020-00237-y

Engel, G. (1977). The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. Science, 196(4286), 129–136. https://doi.org/10.1126/science.847460

Franke, A., Antonovsky, A. & Schulte, N. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit (Forum für Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis) (1. Aufl.). dgvt-Verlag.

Leonardi, M., Lee, H., van der Veen, S., Maribo, T., Cuenot, M., Simon, L., Paltamaa, J., Maart, S., Tucker, C., Besstrashnova, Y., Shosmin, A., Cid, D., Almborg, A.-H., Anttila, H., Yamada, S., Frattura, L., Zavaroni, C., Zhuoying, Q., Martinuzzi, A., … de Camargo, O. K. (2020). Avoiding the Banality of Evil in Times of COVID-19: Thinking Differently with a Biopsychosocial Perspective for Future Health and Social Policies Development. SN Comprehensive Clinical Medicine, 2(10), 1758–1760. https://doi.org/10.1007/s42399-020-00486-8

Salvucci, E. (2012). Selfishness, warfare, and economics; or integration, cooperation, and biology. Frontiers in Cellular and Infection Microbiology, 2, 54.

https://doi.org/10.3389/fcimb.2012.00054


Querverweise:

[1] Belousova, K. (2020, 17. März). Der Minister und die Fake News. Missglückter Coronavirus-Tweet: Der Minister und die Fake News – ZDFheute. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-gesundheitsministerium-fake-twitter-100.html

[2] Berliner Zeitung. (2020, 2. September). Spahn: „Mit dem Wissen heute keinen Einzelhandel mehr schließen“. https://www.berliner-zeitung.de/news/spahn-wuerde-mit-dem-wissen-heute-keinen-einzelhandel-mehr-schliessen-li.102354

[3] rbb. (2020, 30. Januar). Prof. Dr. Christian Drosten: Coronavirus-Experte im Interview vom 30.01.2020 | Talk aus Berlin. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=Z3Zth7KYVHY

[4] Schiele, K. (2021, 20. Februar). Corona-Mythen: Starkes Immunsystem genügt nicht. tagesschau.de. https://www.tagesschau.de/faktenfinder/immunsystem-covid-19-101.html

[5] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat. (2020, 28. April). Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen. BMI. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/corona/szenarienpapier-covid19.pdf?__blob=publicationFile&v=6

[6] Nabert, A. (2021, 7. Februar). Interner E-Mail-Verkehr: Innenministerium spannte Wissenschaftler ein. DIE WELT. https://www.welt.de/politik/deutschland/article225864597/Interner-E-Mail-Verkehr-Innenministerium-spannte-Wissenschaftler-ein.html

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